Ich bin Hannah und das ist Deutschland 2033.
Die Straßen sind still, während ich mich beeile, nach Hause zu kommen. Der Morgen ist kühl, die Schatten der Gebäude scheinen länger als sonst. Mein Schlüssel liegt schwer in meiner Hand – ein winziges Stück Metall, das mir das Gefühl von Sicherheit geben soll. Aber ich weiß, dass es mich nicht schützen kann.
Zu Hause schlafen meine Töchter noch. Ella ist 9, Mila 19. Sie wissen es noch nicht, aber ihre Freiheit ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Mila wollte studieren, wollte die Welt sehen. Doch die Welt, die sie vorfindet, hat keinen Platz für junge Frauen wie uns – Frauen mit Träumen, Frauen mit afrikanisch-jüdischen Wurzeln. Und Ella? Sie ist noch zu jung, um die Realität zu verstehen, die sie umgibt. Aber sie stellt Fragen. „Warum darf ich nicht alleine raus? Warum reden die Leute anders mit dir als mit Papa?“
Wie soll ich ihr erklären, dass es nicht nur um mich geht, sondern um alles, wofür ich stehe? Eine schwarze Frau, eine jüdische Mutter, die versucht, ihre Töchter in einem Land großzuziehen, das sich seit Jahren gegen sie wendet.

Kontrolle
Mein Mann ist in der Küche, als ich nach Hause komme. Ich höre den Wasserkocher pfeifen, das Kratzen seiner Tasse auf der Arbeitsplatte. Er ist ein Mann der Gewohnheit. Seine Bewegungen sind gleichmäßig, seine Worte kalt und präzise.
„Ella hat gestern ihre Schuhe nicht ordentlich weggeräumt,“ sagt er, ohne mich anzusehen. „Vielleicht solltest du ihr beibringen, was Ordnung bedeutet.“
Ich sage nichts. Es ist besser so. Er ist kein Mann, der schreit oder die Fassung verliert. Seine Worte sind schärfer als jede Waffe. Und ich habe gelernt, dass es nichts bringt, zu widersprechen.
Er hat seine Kontrolle subtil perfektioniert. Es sind nicht die großen Gesten, sondern die kleinen, fast unsichtbaren Fäden, die mich binden. Wenn ich abends die Lichter nicht in der richtigen Reihenfolge ausschalte, bemerkt er es. Wenn ich eine Rechnung nicht vorab mit ihm bespreche, kommentiert er es beiläufig, doch mit einem Blick, der keine Diskussion zulässt.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du die Einkaufslisten rechtzeitig aktualisieren sollst,“ murmelt er, während er seinen Kaffee umrührt. Es ist keine Bitte, sondern eine Feststellung, dass ich versagt habe.
Seine Kontrolle lebt von Routine und meinem ständigen Bemühen, Fehler zu vermeiden. Ich bin längst nicht mehr ich selbst. Ich bin eine Frau, die ständig darüber nachdenkt, ob die Messer im Besteckkasten richtig sortiert sind oder die Waschmaschine zur richtigen Zeit läuft. Diese Kleinigkeiten, die er anmerkt, scheinen unbedeutend. Doch sie nehmen mir die Luft.
Mila sitzt am Fenster und schaut hinaus. Ihre Schultern sind schmal, ihr Blick müde. Sie vermeidet seine Nähe, seit sie alt genug ist, um zu verstehen, dass er uns nicht liebt – er besitzt uns. Ella springt umher, ihre kindliche Energie ein seltsamer Kontrast zu der Schwere, die in der Luft liegt.
Zurück zu den Wurzeln
Auf meinem Weg zur Arbeit sehe ich das Plakat wieder: „Zurück zu den Wurzeln. Für eine starke Gesellschaft.“ Eine weiße Familie lächelt darauf – Vater, Mutter, zwei Kinder. Es ist das Bild einer Welt, in der Menschen wie ich keinen Platz haben.
Es erinnert mich an Leni. Meine beste Freundin aus der Schulzeit, eine von wenigen, die nie auf meine Hautfarbe oder meine Herkunft herabgesehen hat. Leni war wild, voller Energie, voller Pläne. Sie wollte sich niemals anpassen, niemals unterwerfen.
Doch das System ließ ihr keine Wahl. Sie wurde schwanger, und alle Türen schlossen sich. Sie hatte niemanden, der sie unterstützte, und schließlich zog sie sich zurück. Der Druck der Gesellschaft, die Abwesenheit von Unterstützung, die Isolation – es war zu viel. Ich habe Leni nie wieder gesehen, und ich frage mich oft, ob ich sie hätte retten können. Aber wie hätte ich das tun sollen?
Ich war selbst so damit beschäftigt, in einer Welt zu überleben, die mich schon als Kind mit Vorurteilen überschüttet hat.
Gewalt
Im Krankenhaus treffe ich Nadja. Sie ist jung, voller Energie, doch in letzter Zeit sehe ich, wie die Angst in ihr wächst. Sie bricht heute in Tränen aus.
„Ich kann nicht mehr,“ sagt sie, ihre Stimme erstickt.
„Was ist passiert?“ frage ich.
Sie erzählt von den Nachrichten, die sie jeden Tag von ihrem Ex-Freund bekommt. Von den Drohungen, den Beleidigungen. Und dann von den Bildern, die im Netz kursieren – Bilder, die nicht echt sind, aber das spielt keine Rolle. Ihr Chef hat sie zur Rede gestellt, sie hat ihren Job verloren.
„Ich habe niemanden mehr,“ sagt sie. „Die Polizei tut nichts. Und ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll.“
Ich will sie trösten, ihr Mut machen, aber ich weiß, dass meine Worte hohl klingen würden. Ich kenne diese Ohnmacht, erlebe sie jeden Tag.
Eine schleichende Entwicklung?
Am Abend, als die Mädchen schlafen, stoße ich auf ein Video. Der Titel springt mir entgegen: „2013–2023–2033: Eine Entwicklung, die uns alle betrifft.“ Ich klicke darauf, fast widerwillig.
„2013,“ beginnt die Stimme. „33.756 Fälle sexualisierter Gewalt. 109.000 Opfer häuslicher Gewalt. 1.275 antisemitische Straftaten. 20.000 rassistische Übergriffe.“
Ich erinnere mich an diese Zeit. Damals war ich jünger, und ich dachte, solche Dinge würden weniger werden, nicht mehr.
„2023: 62.404 Fälle sexualisierter Gewalt. 180.700 Opfer häuslicher Gewalt. 3.027 antisemitische Straftaten. 28.000 rassistische Übergriffe.“
Die Zahlen steigen, die Bilder im Video werden chaotischer. Menschen, die protestieren, Polizeigewalt, brennende Synagogen.
„2033: 115.000 Fälle sexualisierter Gewalt. 300.000 Opfer häuslicher Gewalt. 5.000 antisemitische Straftaten jährlich. Über 40.000 rassistische Übergriffe.“
Die Musik wird düsterer. Die Bilder zeigen Menschen, die sich hinter Masken verstecken, Angriffe auf Frauen und Kinder. Die letzten Worte des Videos brennen sich in mein Gehirn: „2033 – Ist das die Welt, die du willst?“
Ich kann nicht aufhören, an die Zahlen zu denken. Ich sehe die Namen von Frauen vor mir, die ich gekannt habe, sehe Gesichter von Frauen, die verschwunden sind.
Eine globale Katastrophe
Und dann denke ich an die Welt da draußen. An die Frauen, die in Gaza, Israel, Afghanistan oder Nigeria sind. Frauen, die in Kriegsgebieten aufwachsen, deren Leben von Gewalt und Hunger bestimmt sind. Wir hören sie nicht mehr. Ihre Stimmen sind in den letzten 10 Jahren immer ruhiger geworden, bis sie unbemerkt verstummten. Die Klimakrise 2033 hat vieles verschärft. Die Dürreperioden in Afrika haben Millionen zur Flucht gezwungen, doch Europa hat seine Grenzen längst geschlossen.
Ich sehe die Nachrichten über Frauen in Flüchtlingslagern, ohne Zugang zu Wasser, Nahrung oder Sicherheit. Frauen, die auf ihrer Flucht verschleppt werden, die Gewalt erleben, die nie dokumentiert wird.
Auch hier steigen die Spannungen. Die Migration hat viele Menschen aufgebracht, und rechte Gruppen nutzen die Angst, um Hass zu schüren. Frauen wie ich, mit dunkler Haut und jüdischer Herkunft, werden zu Zielscheiben – nicht, weil wir etwas getan haben, sondern weil wir existieren.
Ich denke an Mila, an Ella, an Leni und an Nadja. Ich denke an all die Frauen, die niemals die Chance hatten, für sich selbst einzustehen.
Vielleicht kann ich es schaffen. Ich habe von einer Gruppe gehört, ein Netzwerk von Frauen, die kämpfen. Vielleicht finde ich sie. Vielleicht schließe ich mich ihnen an. Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit, die Welt zu verändern.
Vielleicht.
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