Am 25. November war internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Ein Tag, an dem Kerzen angezündet werden, als könnten diese die Narben auf Millionen Körpern und Seelen wegleuchten. Ich habe mich an diesem Tag mitgerissen gefühlt, habe gehofft, dass diese kollektive Aufmerksamkeit vielleicht etwas bewegt. Dass wir wenigstens für einen Moment alle verstehen, wie dringend wir etwas ändern müssen. Und dann höre ich vom Klaasohm-Brauch.
Was ist der Klaasohm-Brauch?
Der Klaasohm-Brauch ist eine jahrhundertealte Tradition auf der Nordseeinsel Borkum, bei der sich Männer am 5. Dezember als furchterregende Gestalten verkleiden und Frauen symbolisch mit Hörnern schlagen. Ursprünglich ein heidnisches Ritual zur Vertreibung böser Geister und der Unterordnung der Frau, wird der Brauch heute als kulturelles Erbe gefeiert, obwohl er Gewalt und Unterdrückung widerspiegelt. Kritiker sehen in diesem Ritual einen Relikt des Patriarchats, das in einer modernen, gleichberechtigten Gesellschaft keinen Platz mehr haben sollte.
Ein Brauch, bei dem Männer durch die Straßen ziehen, Frauen jagen und sie mit Hörnern schlagen. Die Begründung? „Tradition“. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Das passiert in Deutschland. In einem Land, das sich rühmt, Vorreiter für Gleichberechtigung zu sein. Ein Land, das an einem Tag lautstark „Nein zu Gewalt“ ruft und zehn Tage später schweigt, wenn Frauen „aus Tradition“ geschlagen werden.
Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass wir in einer Gesellschaft leben, die solche Rituale duldet? Mir wird immer gesagt, wir wären so fortschrittlich. So aufgeklärt. Wir hätten aus der Vergangenheit gelernt. Aber was ich hier sehe, ist nichts anderes als die Fortsetzung eines Systems, das Frauen immer wieder opfert, weil es einfacher ist, „Tradition“ zu schützen, als sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen.

Es macht mich wütend. Nicht nur, dass dieser Brauch existiert, sondern dass niemand darüber spricht. Dass er in einer gemütlichen Nische der Folklore versteckt wird, während wir uns an internationalen Aktionstagen gegenseitig auf die Schultern klopfen. Es ist die stille Heuchelei, die mich krank macht. Der Abgrund zwischen den Worten und den Taten.
Ich frage mich, wie viele Frauen sich an diesem Tag hinter verschlossenen Türen verstecken. Wie viele Mädchen dabei zuschauen, wie Gewalt zelebriert wird. Und ich frage mich, wie wir uns als Gesellschaft noch in den Spiegel schauen können, wenn wir solche Bräuche als „harmlos“ abtun.
Es tut weh, so etwas zu hören, wenn man an einem Tag zuvor noch daran geglaubt hat, dass sich etwas ändert. Was bleibt, ist nur der Rauch und der Geschmack von Asche.
Ein Impuls für die Menschen auf Borkum
Traditionen sind wertvolle Anker, die uns mit unserer Geschichte verbinden. Sie erzählen von unseren Wurzeln und prägen unsere Identität. Doch jede Tradition trägt auch die Verantwortung, mit der Zeit zu wachsen und sich zu verändern, wenn sie nicht mehr das Beste in uns hervorbringt. Der Klaasohm-Brauch ist Teil eurer Kultur, eurer Inselgeschichte, aber auch ein Relikt aus einer Zeit, die wir längst hinter uns lassen wollen -eine Zeit, in der Gewalt und Macht über Gemeinschaft und Mitgefühl gestellt wurden.
Vielleicht ist jetzt der Moment gekommen, diesen Brauch zu reflektieren. Nicht, um ihn abzuschaffen, sondern um ihn zu transformieren. Ihr habt die Möglichkeit, ihn zu einem Ritual der Stärke und des Zusammenhalts zu machen – nicht auf Kosten von Frauen, sondern mit ihnen. Veränderung bedeutet nicht, etwas zu verlieren, sondern zu wachsen. Eure Tradition kann ein Vorbild sein: für Wandel, für Respekt und für eine Zukunft, in der niemand durch Rituale verletzt wird. Ihr habt die Stärke und die Geschichte, diesen Schritt zu gehen.
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