Gerade packt mich ein Gedanke, den ich nicht mehr loswerde. Es fühlt sich an, als hätte ich eine unsichtbare Wunde entdeckt, eine, die wir alle mit uns herumtragen. Vielleicht kennst du das Gefühl auch: Diese unterschwellige Angst, die uns antreibt, die uns ständig sagt, wir müssen perfekt sein, angepasst, ruhig, freundlich – weil wir sonst in Gefahr geraten. Aber woher kommt diese Angst? Ist sie wirklich noch aktuell oder leben wir nur noch die Geister der Vergangenheit?
Stille Teilhabe durch Geschichten
Ich denke darüber nach, wie oft uns Geschichten erzählt werden. Von den Hexenverbrennungen, den Frauen, die in Kliniken weggesperrt wurden, weil sie zu laut, zu lebendig, zu sehr sie selbst waren. Von Lobotomien, von Frauen, die mit Valium ruhiggestellt wurden, von all den Schicksalen, die uns zeigen sollen, was passiert, wenn wir zu viel sind. Diese Geschichten erreichen uns immer wieder. Wir hören sie in Dokumentationen, lesen darüber in Artikeln, und sie stecken tief in unseren kollektiven Erinnerungen. Und jetzt frage ich mich: Wozu eigentlich?
In wie weit nutzt das Patriarchat diese Geschichten gezielt, um uns unterbewusst zu warnen. Sollen wir uns daran erinnern, wie schnell wir wieder an den Rand gedrängt werden können, wenn wir zu unbequem werden? Das Patriarchat hat über die Jahrhunderte hinweg nicht nur unsere Körper kontrolliert, sondern auch unsere Gedanken, unsere Träume, unsere Ängste. Die Geschichte der Frauen ist eine Geschichte des Schmerzes, des Überlebens, aber auch eine Geschichte der subtilen Kontrolle.
Ich glaube, diese Geschichten wirken wie ein unsichtbares Netz, das unser Nervensystem festhält. Wir leben heute in einer Welt, in der wir angeblich frei sind. Wir haben Rechte, wir können wählen, wir können arbeiten, wir können uns selbst verwirklichen. Aber ist das wirklich Freiheit? Oder ist es nur eine neue Art von Kontrolle, eine, die viel subtiler ist?
Diese alten Ängste, diese Erinnerungen an die Hexen, die verbrannt wurden, an die Frauen, die weggesperrt wurden, wirken in uns weiter. Sie sind wie unsichtbare Fäden, die uns dazu bringen, uns anzupassen. Wir wollen nicht auffallen, wir wollen nicht die Nächsten sein, die verurteilt werden. Also passen wir uns an. Wir machen uns leiser, freundlicher, schöner. Wir optimieren uns, damit wir nicht auffallen, damit wir ins System passen, damit wir sicher sind.
Und während wir damit beschäftigt sind, uns selbst zu optimieren, verlieren wir den Blick für das große Ganze. Wir suggerieren, dass wir frei seien, solange wir uns selbst verbessern, solange wir an uns arbeiten. Aber vielleicht ist das die perfideste Form der Kontrolle: Uns zu beschäftigen, uns zu zerstreuen, uns in unseren individuellen Problemen zu verstricken, damit wir nicht auf die Idee kommen, das System selbst infrage zu stellen.
Ich sehe es überall. Die Versprechen von Freiheit und Selbstverwirklichung locken uns in die Falle der Individualisierung. „Du kannst alles erreichen, wenn du nur hart genug an dir arbeitest.“ Aber diese Art von Freiheit fühlt sich oft leer an. Denn während wir uns mit Achtsamkeitspraktiken, Diäten und Karrieretipps beschäftigen, vergessen wir, dass die wirkliche Freiheit nicht darin liegt, besser in das System zu passen, sondern das System zu verändern.
Ich frage mich: Was passiert, wenn wir diese Angst bewusst erkennen? Wenn wir aufhören, uns von den Geschichten der Vergangenheit kontrollieren zu lassen und anfangen, sie zu hinterfragen? Vielleicht können wir uns von der Last der Hexenwunde befreien, indem wir erkennen, dass diese Geschichten nicht nur Mahnungen, sondern auch Werkzeuge sind, um uns in Schach zu halten.
Ich glaube, die Heilung beginnt dort, wo wir die Angst sehen und uns weigern, uns weiter von ihr kontrollieren zu lassen. Es geht darum, unsere Energie nicht in Selbstoptimierung zu stecken, sondern in Solidarität und Gemeinschaft. Wir müssen verstehen, dass wir nur wirklich frei sind, wenn wir es gemeinsam sind. Wenn wir aufhören, uns mit Konsum und Selbstoptimierung zu betäuben, und stattdessen anfangen, die Strukturen infrage zu stellen, die uns unterdrücken.
Ich schreibe das hier nicht, weil ich die Antworten habe. Ich schreibe, weil ich glaube, dass wir uns alle diese Fragen stellen sollten. Wir müssen uns trauen, uns selbst zu hinterfragen. Wir müssen den Mut haben, unsere Ängste zu entlarven und ihnen ins Gesicht zu sehen. Denn nur so können wir die Ketten sprengen, die wir vielleicht gar nicht mehr sehen, weil sie so unsichtbar geworden sind.
Lass uns aufhören, uns zu optimieren, und anfangen, uns zu verbinden. Lass uns aufhören, uns zu betäuben, und anfangen, uns zu befreien. Vielleicht finden wir so einen Weg, die Hexenwunde zu heilen – nicht nur für uns selbst, sondern für alle Frauen, die nach uns kommen.
Was wäre, wenn wir uns nicht länger in die blauen Kleider zwängen lassen? Wenn wir uns weigern, die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter, die perfekte Frau zu sein? Vielleicht beginnt echte Freiheit dort, wo wir aufhören, uns an ein System anzupassen, das uns nicht dient, und anfangen, das System selbst zu verändern.
Ich glaube, es ist Zeit.
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