Gewalt gegen Frauen ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Die täglichen Nachrichten über die steigende Gewalt ist schwer ertragbar und lässt mich in einsamen Gedanken zurück, deshalb suche ich hier Erleichterung: Nicht jede Gewalt hat offene Wunden oder hinterlässt blaue Flecken. Viel subtiler und stiller, trifft uns Mikrogewalt. Sie ist leise, versteckt sich in Worten, Blicken und Gesten – und doch ist sie allgegenwärtig. Sie ist das unsichtbare Fundament, auf dem ebenso patriarchale Strukturen ruhen. Und manchmal tragen wir selbst dazu bei.
Was ist Mikrogewalt?
Mikrogewalt beschreibt die kleinen, scheinbar harmlosen Angriffe, die uns tagtäglich begegnen. Sie steckt in abwertenden Kommentaren, „gut gemeinten“ Ratschlägen, subtilem Ausschluss oder auch in unserer Sprache. Es ist diese Form der Gewalt, die uns nicht sofort auffällt, uns aber dennoch nachhaltig beeinflusst.
Vielleicht hast du schon mal erlebt, wie du in einem Gespräch unterbrochen wurdest, obwohl du gerade etwas Wichtiges gesagt hast. Oder hat dir schonmal jemand vorgeworfen, dass du zu emotional warst, als du versucht hast, deine Meinung zu vertreten? Vielleicht hast du dich klein gemacht, als du gemerkt hast, dass dein Raum, deine Stimme nicht willkommen sind. Das ist Mikrogewalt.

Wie fühlt sich Mikrogewalt an?
Mikrogewalt ist wie ein unsichtbarer Tropfen, der langsam, aber stetig dein Selbstwertgefühl aushöhlt. Sie hinterlässt keine sichtbaren Narben, aber ihre Auswirkungen sind tiefgreifend: Man zweifelt an der eigenen Wahrnehmung, fühlt sich klein und machtlos und ist gezwungen sich zurücknehmen zu müssen, um Konflikte zu vermeiden.
Mikrogewalt ist wie eine Mauer. Sie baut sich langsam auf, Stück für Stück, bis du irgendwann das Gefühl hast, dich ständig verteidigen oder rechtfertigen zu müssen – oft ohne zu wissen, warum.
Wo begegnet uns Mikrogewalt?
Sie versteckt sich in unserem Alltag, in unserem sozialen Umfeld, in unserer Sprache und manchmal sogar in uns selbst.
Am Arbeitsplatz erleben wir sie in Form von „Mansplaining“ (Männer erklären Dinge, die wir längst wissen) oder durch das Übergehen unserer Ideen. Wie oft hast du schon erlebt, dass deine Vorschläge ignoriert wurden, bis ein Mann sie wiederholt hat – und plötzlich „brillant“ waren?
Familien sind oft der erste Ort, an dem Mädchen Mikrogewalt erfahren. Sätze wie „Das macht ein Mädchen nicht“ oder „Sei brav“ stecken voller subtiler Botschaften: Sei angepasst. Sei leise. Sei unsichtbar.
Auch in Partnerschaften zeigt sich Mikrogewalt. Vielleicht hast du Sätze gehört wie „Wenn du mich wirklich liebst, würdest du …“ oder „Du bist doch hysterisch.“ Es sind diese kleinen Stiche, die dich zweifeln lassen – an dir, an deiner Wahrnehmung, an deiner Stimme.
Dinge wie Lästern, Body-Shaming, subtile Abwertungen – wir sind auch untereinander nicht frei von Mikrogewalt. Kommentare wie „Das ist aber mutig, sowas anzuziehen“ oder „Ich könnte das nie machen“ tarnen sich oft als Komplimente, sind aber in Wahrheit herablassend.
Warum passiert das?
Mikrogewalt ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Sie ist das Produkt jahrhundertelanger patriarchaler Strukturen, die uns systematisch entwertet und kontrolliert haben. Sie wird weitergegeben – durch Erziehung, Medien, Sprache und soziale Normen.
Aber Gewalt wird nicht nur von Männern ausgeübt. Auch wir tragen sie manchmal weiter, oft ohne es zu merken. Warum? Weil wir in denselben Strukturen sozialisiert wurden. Wir reproduzieren, was wir selbst gelernt haben, um uns anzupassen, um uns zu schützen, um in einer Welt zu überleben, die uns nicht immer Raum gibt.
Was können wir tun?
Der erste Schritt, umzurüsten Befreiung, ist das Bewusstsein. Wir müssen sie sichtbar machen – in unserem Alltag, in unseren Beziehungen und in uns selbst.
1. Mikrogewalt erkennen
Hinterfrage die Worte, die du hörst und sprichst. Beobachte, wie du dich in bestimmten Situationen fühlst. Wenn du dich klein, entwertet oder unsicher fühlst, frage dich: War das gewaltätig?
2. Verantwortung übernehmen
Wir alle haben Macht – und damit Verantwortung. Hinterfrage dein eigenes Verhalten. Hast du jemals andere durch Kommentare, Blicke oder Handlungen entwertet? Es ist okay, Fehler zu machen, solange wir daraus lernen und uns ändern.
3. Solidarität zeigen
Wir müssen zusammenhalten. Statt uns gegenseitig zu kritisieren oder herabzusetzen, sollten wir uns unterstützen. Feier wir die Erfolge anderer Schwestern – imm sie ernst, gib ihnen Raum.
4. Laut werden
Mikrogewalt lebt von ihrem Versteckspiel. Sprich sie an, wenn du sie erkennst – bei anderen und bei dir selbst. Das kann unangenehm sein, aber es ist notwendig, um Veränderung zu schaffen.
Gewalt ist eine stille Epidemie. Sie formt, wie wir uns selbst und andere Frauen sehen. Sie hält uns klein, trennt uns voneinander und stärkt ein System, das uns nicht dient. Aber es liegt in unserer Hand, das zu ändern. Jede von uns hat die Macht, zu erkennen, zu benennen und etwas entgegenzusetzen.
Das ist kein leichter Weg. Aber es ist ein wichtiger. Denn jede kleine Veränderung – jeder Moment, in dem wir Strukturen aufbrechen, in dem wir uns gegenseitig unterstützen, in dem wir unsere Stimme erheben – bringt uns einen Schritt näher zu einer Welt, in der wir nicht nur existieren, sondern wirklich leben können. Frei. Gleichberechtigt. Selbstbestimmt.
Also, lass uns anfangen. Gemeinsam. Heute. Hier.