Ständig die beste Version von uns selbst zu sein – dieser Satz klingt wie ein Mantra der modernen Gesellschaft. Doch was bedeutet es für eine Frau, für eine Mutter, für jemanden mit Haut und Haaren, die außerhalb der Norm wahrgenommen werden? Ich möchte dir erzählen, warum dieser Zwang besonders Frauen trifft und wie wir einen neuen Weg finden können.
Die tägliche Gratwanderung der Erwartungen
Frauen werden in jeder Phase ihres Lebens mit Erwartungen konfrontiert. Sie sollen jung, attraktiv, schlank und erfolgreich sein – aber bitte nicht zu selbstbewusst. Sie sollen fürsorgliche Mütter sein, aber dabei trotzdem Zeit für Karriere, Yoga, gesunde Ernährung und ein makelloses Erscheinungsbild finden. Für Frauen mit ethnischen Merkmalen wie Afro-Haaren oder dunklerer Haut gibt es noch eine zusätzliche Ebene: Das Gefühl, sich erst beweisen zu müssen, um überhaupt akzeptiert zu werden.
Haare als Kampfzone
Afrikanische Haare sind für viele kein einfaches Styling-Thema, sondern ein kultureller und sozialer Schauplatz. Locken, die sich nicht „glätten“ lassen, werden als unprofessionell oder unordentlich angesehen. „Natürlichkeit“ wird in der Werbung gefeiert – aber nur, solange sie dem westlichen Schönheitsideal entspricht. Als Frau mit Afro-Haaren merkt man schnell, dass Selbstoptimierung nicht nur ein Trend ist, sondern ein notwendiges „Überlebenswerkzeug“, um respektiert zu werden. Frauen mit gebräunter oder dunkler Haut erleben, dass Pflegeprodukte oft nicht für sie gemacht sind. BB-Creams oder „neutrale“ Make-up-Töne sind hell wie Porzellan. Selbstoptimierung bedeutet hier nicht nur, sich den Erwartungen zu stellen, sondern auch ständig Kompromisse zu machen, weil diese Welt nicht für dich designed wurde.
Yoga und die Widersprüche der Selbstfürsorge
Als Yogalehrerin lebe ich in einem Spannungsfeld zwischen Befreiung und neuem Druck. Yoga predigt Selbstakzeptanz und Balance, doch die Instagram-Bilder dazu zeigen oft schlanke weiße Frauen in teuren Outfits, die perfekt inszenierte Posen in Bali üben. Die Spiritualität von Yoga wurde in eine Industrie verwandelt, die erneut Frauen an den Optimierungsdruck bindet: Sei flexibler, ruhiger, achtsamer – und sieh dabei makellos aus.
Und als Mütter wird dieser Druck noch intensiver. „Mama, aber bitte schlank und entspannt“, scheinen uns die Werbungen zuzurufen. Die Gesellschaft erwartet, dass wir nicht nur unseren Kindern, sondern auch uns selbst „gerecht“ werden. Als ob ich beim Stillen meiner Tochter gleichzeitig meine Bauchmuskeln trainieren müsste.
Kapitalismus: Dein bester Freund, der dich ausnutzt
Der Druck zur Selbstoptimierung ist nicht zufällig entstanden. Die Schönheitsindustrie, Wellness-Branche und soziale Medien sind Teil eines kapitalistischen Systems, das Frauen sagt: Du bist nicht genug – aber wir haben die Lösung! Ob es Haarprodukte sind, um krauses Haar „unter Kontrolle“ zu bringen, oder Diätpläne, die versprechen, dich nach der Geburt „in Form“ zu bringen: Die Botschaft ist immer dieselbe. Dein natürlicher Zustand reicht nicht aus.
Für Frauen, die nicht in westliche Schönheitsideale passen, ist dieser Druck noch größer. Produkte werden selten für uns gemacht, und wir geben doppelt so viel aus, um uns anzupassen. Doch anstatt uns freier zu fühlen, fühlen wir uns gefangener denn je.
Wie wir uns befreien können
1. Hinterfrage den „Normalzustand“:
Warum soll glattes Haar professioneller sein als krauses? Warum wird dunklere Haut mit „Exotik“ gleichgesetzt? Es ist Zeit, solche Standards aktiv zu hinterfragen – und die Antworten sind nicht immer angenehm.
2. Lerne, „genug“ zu sein:
Selbstakzeptanz ist kein einmaliger Akt, sondern ein täglicher Prozess. Als Yogalehrerin sage ich meinen Schüler:innen oft: „Die Pose ist nicht das Ziel. Es ist die Reise dorthin.“ Diese Haltung gilt für unser Leben genauso wie für die Matte.
3. Solidarität unter Frauen:
Wir tragen so oft Masken und verurteilen uns gegenseitig. Doch echte Solidarität bedeutet, sich gegenseitig Raum zu geben – ohne Kritik, ohne Vergleiche.
4. Reduziere den Konsum:
Der kapitalistische Druck lebt davon, dass wir immer wieder kaufen. Je weniger wir uns auf die Versprechen der Industrie einlassen, desto freier können wir sein.
Was wäre, wenn…
…wir einfach „so sein“ dürften, wie wir sind? Was wäre, wenn unsere Haare, unsere Haut, unsere Körper genauso akzeptiert würden wie andere? Ich sehe meine beiden Töchter an – eine 10-Jährige, die schon jetzt die ersten Unsicherheiten spürt, und ein Baby, das die Welt noch ganz offen sieht. Für sie möchte ich einen anderen Weg finden. Einen, der Selbstakzeptanz vor Selbstoptimierung stellt und Freiheit vor Anpassung.
Wir Frauen sind nicht geboren, um uns ständig zu verbessern. Wir sind geboren, um zu leben. Um zu sein. Und das reicht.
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