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Yoga im Patriarchat – 90 Minuten

Als Ehefrau, Mutter von zwei Kindern – eines davon gerade mal wenige Monate alt – und ehemalige Alleinerziehende weiß ich, wie wenig Zeit und Energie für die eigene Selbstfürsorge bleibt. Gleichzeitig stecke ich mitten in meiner Ausbildung zur Yogalehrerin und werde mit einer Praxis konfrontiert, die wie vieles andere durch patriarchale Strukturen geformt wurde. Die gängige Vorstellung, dass Yoga 90 Minuten dauern „muss“, zeigt, wie sehr diese Strukturen Frauen, insbesondere Mütter, immer wieder ausschließen.

Yoga – Ursprünge und westliche Realität

Traditionell wurde Yoga von Männern entwickelt, die sich aus ihrem Alltag herausnehmen konnten, um über Stunden zu meditieren, Atemübungen zu machen oder Asanas zu praktizieren. Care-Arbeit oder emotionale Belastung durch Familie? In ihrem Leben nicht vorhanden. Als Yoga schließlich im Westen ankam, wurde diese ursprüngliche Praxis mit einem kapitalistischen Perfektionismus versehen: Du brauchst teure Kurse, perfekte Outfits und – natürlich – 90 Minuten Zeit.

Für viele Frauen, besonders für Mütter, ist dieser Anspruch völlig unrealistisch. Wir tragen die Hauptlast der Kinderbetreuung, jonglieren Jobs, Haushalt und emotionale Arbeit. Trotzdem wird uns suggeriert, dass Selbstfürsorge in einem bestimmten Rahmen stattzufinden hat: am besten in einem ruhigen Raum, mit einer Yogamatte, durchgetaktet in festen Zeitblöcken. Aber wer hat diese Zeit wirklich?

Patriarchale Strukturen in der Wellness-Industrie

Die Idee, dass Selbstfürsorge ein kompliziertes, langwieriges Unterfangen ist, wurzelt in patriarchalen Strukturen. Frauen wird oft der Zugang zu einfacher, alltagstauglicher Fürsorge verweigert, indem sie in ein System gezwängt werden, das auf Leistung basiert. Statt einer flexiblen Praxis, die unser Leben erleichtert, wird Yoga zu einem weiteren Punkt auf der To-do-Liste: „Wenn ich keine 90 Minuten für mich finde, mache ich es falsch.“

Diese Struktur verstärkt das Gefühl des Versagens, das viele Mütter ohnehin empfinden. Dabei sollte Yoga, das ja eigentlich als Werkzeug für Entspannung und Verbindung gedacht ist, gerade uns Frauen Raum und Kraft geben.

Warum 90 Minuten Sessions Mütter ausschließen

90 Minuten Yoga mögen wunderbar sein, aber sie sind für viele Mütter eine Illusion. Wer kleine Kinder hat, weiß, wie selten 90 Minuten am Stück überhaupt ungestört zur Verfügung stehen. Und selbst wenn diese Zeit theoretisch da wäre, fehlt oft die Energie.

Als ich alleinerziehend war, bestand mein Alltag aus Arbeit, Kinderbetreuung und Haushaltsmanagement. Ich war abends oft so müde, dass ich kaum die Kraft hatte, einen Film zu schauen – geschweige denn, 90 Minuten Asanas zu machen. Heute, als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern, sieht es nicht anders aus. Der Versuch, lange Yoga-Sessions in meinen Alltag zu pressen, fühlt sich immer noch an wie ein Luxus, der für mein Leben nicht gemacht ist.

Was wir brauchen, ist ein Yoga, das sie in ihrem Alltag begleitet, statt sie in ein System zu zwingen. Die Lösung? Weg von der Idee, dass Yoga lang, perfekt oder gar „heilig“ sein muss, und hin zu einer Praxis, die in unser Leben passt.

1. Kürzere Einheiten – große Wirkung

Selbst 5 bis 10 Minuten Yoga können dein Nervensystem beruhigen, deinen Körper stärken und dir mehr Energie geben. Ein Sonnengruß am Morgen, eine Kinderstellung während des Mittagsschlafs – das reicht, um dich mit dir selbst zu verbinden.

2. Yoga in den Alltag integrieren

Viele Asanas lassen sich in den Alltag einbauen: Dehnung beim Zähneputzen, ein herabschauender Hund, während die Suppe köchelt, oder eine Atemübung beim Stillen. Diese kleinen Momente machen den Unterschied.

3. Die Familie einbeziehen

Mit kleinen Kindern ist es schwer, sich Zeit nur für sich zu nehmen. Warum also nicht die Kinder einbinden? Mein älteres Kind liebt es, „mitzumachen“ – oft eher spielerisch als ernsthaft, aber es gibt uns die Möglichkeit, gemeinsam Spaß zu haben.

4. Yoga als Geisteshaltung

Yoga ist weit mehr als körperliche Bewegung. Atemübungen (Pranayama), Meditation oder einfach achtsames Atmen kannst du überall machen – auch auf dem Weg zur Arbeit oder während des Stillens.

Feministische Selbstfürsorge: Yoga als Werkzeug der Emanzipation

Das Patriarchat hat uns glauben lassen, dass wir entweder „alles oder nichts“ haben können. Wenn du nicht 90 Minuten Yoga machst, heißt es, du kümmerst dich nicht um dich selbst. Doch das stimmt nicht. Echte Selbstfürsorge passt sich an das Leben der Frauen an, nicht umgekehrt.

Yoga kann ein Werkzeug der Emanzipation sein, wenn wir es uns zurückholen. Es gehört nicht den Fitnessstudios oder den patriarchalen Strukturen, sondern uns. Wir können es nutzen, um uns Raum zu nehmen – auch wenn dieser Raum nur fünf Minuten dauert. Jede Mutter, jede Frau hat das Recht, auf ihre Weise Yoga zu machen, ohne sich dem Druck eines patriarchalen Perfektionismus zu unterwerfen.

Als Yogalehrerin für Frauen sehe ich meinen Auftrag darin, Yoga aus diesen starren Strukturen zu lösen. Yoga muss zugänglich, flexibel und befreiend sein. Es muss uns unterstützen, statt uns an unrealistische Standards zu ketten. Ob du fünf Minuten hast oder 90, ob du es mit deinen Kindern machst oder allein – Yoga gehört dir. Es ist nicht wichtig, wie lange du übst, sondern dass du dir überhaupt einen Moment nimmst. In diesem Moment liegt die Kraft, die uns Frauen so oft verwehrt wird.

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